AI-Diaries: Milliarden von Schwärmen von Delfinen
Ein Newsletter des AI-Writing-Lab, 23.06.25 von Jenifer Becker
Hello all,
mein Newsletter hat jetzt einen Namen: AI-Diaries. Damit möchte ich meinen Tagebuch-Schreibmodus auf den Newsletter übertragen. Bestimmt ergeben sich dadurch nochmal andere Themen, nicht nur Lehre und Academia, sondern auch das, was dazwischen passiert.
Um die Form zu erkunden, denke ich heute vor allem über Tagebuchschreiben als literarische Praxis nach.
Ich beginne mit einer Definition, über die ich bei meiner Recherche zur Gattungsbestimmung gestolpert bin: „Ein Tagebuch ist ein fortlaufender, meist von Tag zu Tag geschriebener Bericht über Dinge, die im Lauf jedes einzelnen Tages vorfielen“ (Peter Boerner: Das Tagebuch. Stuttgart: J.B. Metzler 2017. S. 11). Ich finde es interessant, dass Boerner den Satz ins Passiv setzt und damit nicht definiert, wer oder was diesen Bericht verfasst; als würde im Tagebuch das Potenzial stecken, automatisch weitergeschrieben zu werden oder sich selbst weiterzuschreiben. Oder: von einer anderen Entität (einer algorithmischen Instanz) geschrieben zu werden.
Big Data als Meta-Tagebuch?
Es ist unwahrscheinlich, dass Peter Boerner 1969 in seinen Betrachtungen zur Phänomenologie des Tagebuchs die Frage wer oder was schreibt das Tagebuch? angelegt hat. Für ihn muss es selbstverständlich gewesen sein, dass die Person, die über sich selbst schreibt auch die Autor:in ihres Tagebuchs, also ihres Lebens, ist.
Heute schreiben Tech-Firmen jeden Tag Berichte über uns, die festhalten, was in unserem Leben vorgefallen ist. Tagebücher von OpenAI sind Daten, die sich unermüdlich verflechten und erweitern und deren materielle Form ich mir kaum vorstellen kann. Nur als vereinfachtes Bild, wie die Lichtstrahlen in der O2-Werbung oder die grünen Zahlen, die in Matrix über einen Röhrenbildschirm laufen. Ich stelle mir den Bildschirm heute flacher und größer vor, so wie die LCD-Monitore bei Mediamarkt, auf denen Delfine durchs Meer schwimmen, vorbei an Korallen und anderen Meereswesen.
Mein Tagebuch sieht so aus:
Ich schreibe (fast) täglich in eine Word-Datei, um meine Träume festzuhalten und ein paar Sätze über mein Leben zu verlieren. Diese Word-Datei wuchert so lange vor sich hin, bis mir das Scrollen zu viel wird. Dann gebe ich der Datei eine Nummer (Jahr) und ein Kürzel (Monat) und archiviere sie in einem Ordner, der „Diary“ heißt. Mein Tagebuch ist also ein Datenarchiv nummerierter Word-Dateien. Wenn ich sage: „Ich bin Schriftstellerin“, ist es nicht der eine Roman, den ich publiziert habe, sondern das Tagebuchschreiben, das mich am meisten dazu macht.
Früher war mein Tagebuch ein schwarzes Notizbuch von Moleskine. Später dann in Pappe eingefasste Skizzenbücher von Modulor. Warum ich auf Word geswitcht bin, kann ich nicht mehr genau rekonstruieren. Vielleicht eine pragmatische Entscheidung, weil ich mehr arbeite und das Tippen schneller geht. Und weil das Archivieren einfacher ist. Oder der Griff zum MacBook. Mittlerweile schreibe ich auch ungern per Hand.
Ich kehre nie zu meinen eigenen Tagebüchern zurück, weil ich kaum ertragen kann, was mich im Vorjahr beschäftigt hat. Dafür kehre ich immer wieder zu anderen Tagebüchern zurück. Sylvia Plath, Susan Sontag, Megan Boyle. Niemand außer mir hat jemals in den Ordner „Diary“ geblickt.

Sidonie Smith und Julia Watson fragen: „What is the truth status of autobiographical disclosure? How do we know whether and when a narrator is telling the truth or lying? And what difference would that difference make?“ (Sidonie Smith u. Julia Watson: Reading Autobiography. Minneapolis [u.a.]: University of Minnesota Press 2001. S. 12).
Theoretisch könnte ich meine Erfahrungen in Notizen überführen und das Sprachmodell einen Fließtext daraus machen lassen; aber auch das würde ich nicht wollen. Fehlender Akt des Schreibens, fehlende Auseinandersetzung, Umweltproblematiken, Überwachungskapitalismus.
Nochmal: Ein Sprachmodell ist keine Entität, sondern eine Mustererkennungsmaschine, die mit geklauten Texten gefüttert wurde und diese wiederkäut, um unseren Leben alte Bedeutung einzuhauchen.
Und ich schreibe ja Tagebuch, um mich zu sortieren, keine innere Sortierung ohne Sortier-Praxis durch Schreiben. Für mich funktioniert nicht mal diktieren. Das habe ich letztes Jahr versucht. Ich nehme Sprachnachrichten an mich selbst auf und vergesse sie wieder. Die letzte ist aus Hannover, November 2024. Ich laufe zum E-Damm, wo ich eine Lesung habe, und spreche über ein Bordell, an dem ich hinter dem Bahnhof vorbeilaufe. Ich kündige an, dass ich das jetzt öfter machen will – Sprachnachrichten an mich selbst aufnehmen, um meine Konferenz- und Vortragsreisen mehr zu dokumentieren.
Wohin mit dem Dokumentationsdrang, wenn man Instagram und alles andere aufgegeben hat?
Ich denke an Rolf Dieter Brinkmann, der den gelben Himmel anschreit und das alles mit einem Diktiergerät aufnimmt. Oder Megan Boyle, die über ein paar Monate hinweg einen “Liveblog” führt und im Minutentakt Beobachtungen über sich selbst postet. Alles Versuche, sich einem radikalen literarischen Dokumentarismus zu nähern.
Vielleicht wäre das ein wirklich echtes, nacktes, rohes Tagebuch: Wenn eine KI das Schreiben unserer Datenspuren übernimmt. Die Einlösung von Versprechen auf Klappentexten, auf denen es heißt: ein „brutal ehrlicher Roman.“
Den schreiben alle, die sich in ein Hologramm überführen lassen. Deren Tagebücher bestehen aus: Geo-Daten, Chat-Daten, Suchmaschinen-Daten, etc.
Seltsame Vorstellung, dass der Schreibakt wegfällt, aber man trotzdem permanent Text produziert, einfach dadurch, dass man in Datensammlungs-Gebieten lebt. - Darum die Invasion unserer Handys durch AI-Coaches und Replika-Friends? Wenn die Daten abgesaugt werden, fühlt man sich danach erleichtert (wie das Loswerden von schlechten Gedanken im Beichtstuhl oder nach einer Therapie-Session).
Manchmal träume ich, dass ich mich von oben in einem Schaukasten selbst dabei beobachte, wie ich Dinge tue.
Oder Susan Sontag: „Dreamt last night of a beautiful, mature David of about eight years, to whom I talked, eloquently and indiscreetly, about my own emotional stalemates as Mother used to talk to me—when I was nine, ten, eleven … He was so sympathetic and I felt great peace in explaining myself to him.“ (Susan Sontag: Reborn. London [u.a.]: Penguin Books 2008.)
Oder nochmal Susan Sontag: „This notebook is not a diary. It is not an aid to memory, so that I can remember that on such and such a date I saw that film of Buñuel, or how unhappy I was over J, or that Cádiz seemed beautiful but Madrid not.“ (Susan Sontag: Reborn. London [u.a.]: Penguin Books 2008.)
Bis zum nächsten AI-Diary in vier Wochen,
Jenifer
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Ausblick: Nächste Woche (Montag, 30.06.25) erscheint Ariane Siebels Newsletter über Roboterperspektiven - es geht um (Sex)Bots, Character.ai & Fan-Kultur.
Anstehende Veranstaltungen: Freitag, 04.07. & Samstag 05.07.2025 Studi-Konferenz “Narrative Intelligenz” im LearningLab (Hauptcampus Universität Hildesheim). Veranstalter:innen: Elena Ziegler u. Merle Scheffen.
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Die Inhalte der jeweiligen Newsletter sind keine gemeinsamen Publikationen des AI-Writing-Lab, sondern werden von den jeweiligen Verfasser:innen selbst geschrieben, kuratiert und verantwortet.
Wer wir sind:
Jenifer Becker ist Autorin, Literatur- und Kulturwissenschaftlerin. Sie ist Postdoc am Literaturinstitut Hildesheim und leitet das AI-Writing-Lab.
Ariane Siebel ist Autorin und Theaterschaffende. Sie studiert am Literaturinstitut Hildesheim und ist studentische Hilfskraft im AI-Writing-Lab.
Manuel Hettler ist Autor. Er studiert am Literaturinstitut Hildesheim und ist studentische Hilfskraft im AI-Writing-Lab.
Jonas Galm ist Lyrikautor und Performer. Er moderiert Bühnenveranstaltungen, leitet Workshops und ist studentische Hilfskraft im AI-Writing-Lab.
Das AI-Writing-Lab wird von der Stiftung Innovation in der Hochschullehre gefördert. Das Projekt läuft vom 15.05.2024 bis zum 31.03.2026.